Wenn Blinde mit Musikapps musizieren wollen… – ein Erfahrungsbericht

Tom Simonetti | 17. Mai 2020

Heute habe ich das erste Mal Appmusik mit einer blinden Person ausprobieren können. Dabei hat mich zunächst überrascht, wie selbstständig meine Testkandidatin – nach dem aktivieren einer Bedienhilfe – mit dem von mir mitgebrachten iPad umgehen konnte. Jedoch stellte sich dann bei der Verwendung von Musikapps diese Bedienhilfe als ein schwerwiegendes Problem heraus.

Vorgeschichte

Ich nutze Musikapps neben meiner Live und Studioarbeit vor allem in der kulturellen Bildung z.B: bei Link-Jams im Rahmen des Kultur-Macht-Stark-Projekts app2music_DE in den Räumen der SJR Juze in Augsburg mit Kindern und Jugendlichen.  Aber auch in den Workshops mit mehrfachbehinderten Menschen im Berufsbildungsbereich der Werkstatt Regens Wagner Holzhausen nutze ich Musikapps, um gemeinsames Musizieren erlebbar zu machen. Der Umgang mit Musikapps bedeutet vor allem musikalische Teilhabe für viele Menschen, da man damit in kürzester Zeit akzeptable Ergebnisse erzielen und so z.B. mehrstimmige Streichersounds musizieren oder mit Geräuschen klanglich experimentieren kann.

Ich habe hier eine ältere Reportage über assistive Musiktechnologien angefügt. Diese beschreibt einige Möglichkeiten, die die verschiedenen Technologien bieten. (Englisch)

Auch die iBand Saar zeigt auf ihrer Youtube Seite verschiedene Beispiele zum Musikmachen mit Apps in der Sonderpädagogik –> Link: iBand Saar youtube

In meiner Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher am Arbeitsplatz haben wir uns mit diversen Beeinträchtigungen der Sinne befasst. So konnte ich zum Beispiel einen ganzen Tag mit verbundenen Augen (fast blind) mit und ohne Assistenten erleben. Dieser Tag war eine sehr aufschlussreiche Erfahrung.

Ich wollte nun wissen, ob die Möglichkeiten zum Musizieren mit Apps auch einer blinden Person nutzbar sind. Für dieses Experiment musste ich erst Kontakt zu einer vollständig blinden Person herstellen. Dies habe ich über den Inklusionsbeauftragten des Bezirks Schwaben erreicht.

Große Erwartungen und die schnelle Ernüchterung

Frau H. ist von Geburt an blind. Nach einem kurzen Kennenlernen und Vorstellen meiner Idee reichte ich ihr das iPad weiter. Sie bezeichnete sich selbst als ziemlich unmusikalisch. (Eine Aussage, die 98% aller Erwachsenen beim ersten Kontakt mit Musikapps teilen.)

Frau H. nutzt selbst bereits ein Gerät von Apple (iPad 2018) und bat mich, ihr erstmal die Einstellung „VoiceOver“ an meinem iPad zu aktivieren. Mit Hilfe dieser Sprachausgabe, kann sie das iPad selbstständig bedienen.

Sie startete mit der App TC Performer. Nach dem Starten der App blieb diese leider sofort still. Bei Interaktion mit dem Spielinterface kam kein Sound von der App. Lediglich die Navigations Buttons wurden bei Berührung von „VoiceOver“ vorgelesen.

Zum Musikmachen musste die VoiceOver-Funktion wieder deaktiviert werden. Zur weiteren Verwendung der App TC Performer benötigte Frau H. meine Assistenz, um die Sounds zu wechseln.

Zuerst berührte sie nur mit einem Finger das iPad. Nach einer Weile sagte ich sie könne auch mal versuchen jeden Finger einzusetzen. Mit beiden Händen spielte sie irgendwann eine wiederkehrende Geste und entlockte dem iPad einen beruhigenden Klangteppich. Insgesamt war sie von dem Sound Electric Sheep und ihrem Musizieren mit der TC Performer App angetan.

Das Bild zeigt ein Tablett auf einem Schlagzeug. Auf dem Display ein Blindenzeichen. Dazu ein gelbes Audio Mute Zeichen. Foto: Tom Simonetti

Das Bild zeigt ein iPad auf einem Schlagzeug. Auf dem Display ein Blindenzeichen. Dazu ein gelbes Audio Mute Zeichen. Foto: Tom Simonetti

Nach dem erneuten Aktivieren der VoiceOver-Funktion startete Frau H. die App Jambl. Sie berührte daraufhin den Touchscreen. Hier wurden die Navigations-Buttons der verschiedenen Musik-Styles leider nicht vorgelesen. Über die Lautsprecher des iPads erklang “Button 1”, “Button 2” … u.s.w. Nach dem Wählen eines Style-Buttons, blieb jedoch auch diese App still und es erklangen keine Beats. Lediglich die Buttons der Instrumente im Menü wurden vorgelesen.

Also wurde die VoiceOver-Funktion auch bei Jambl wieder deaktiviert.

Trotzdem war Frau H. verblüfft von der Musik, die sie mit Jambl hervorbrachte. Wir spielten auch ein Duett mit LINK-Synchronisierung. Sie sagte, dass sie es sich mit etwas mehr Übung schon vorstellen könne das Jambl Konzept zu verstehen. Um die App sicher bedienen zu können, müsste sie sich allerdings länger als 20 Minuten mit ihr beschäftigen. Die App erschien uns gut geeignet für Blinde, da sie viel Spielfläche hat.

Ein Lichtblick mit der App Playground?

Als letzte App startete Frau H. die App Playground. Und gleich zu Beginn ein Lichtblick: Playground wies gleich nach dem Öffnen den Benutzer darauf hin, dass die App im Landscape Modus startet. Frau H. drehte das iPad nach Voice-Over-Aufforderung ins Querformat. Weiter ging es sprachgeführt durch den Katalog. Die “Voice-Over Funktion” las die Namen der verschiedenen Tische (also den Spielvorlagen) vor. Euphorisch dachte ich: „jawohl, die Entwickler haben ihre Hausaufgaben gemacht.“

Als die ausgewählte Spieloberfläche erschien, blieb die App PlayGround jedoch wieder stumm.

Ich deaktivierte erneut  Voice-Over, damit die Musik der App PlayGround hörbar wurde. Frau H. konnte sich bei Tischen wie  “Hello!” per Gehör schnell zurechtfinden und damit spielen, obwohl die Glasplatte kein haptisches Feedback gab. Auch probierten wir die Duett-Funktion (Inia Tisch) aus. Das war für uns eine sichtlich freudige Erfahrung. Frau H. fragte: “Spielen wir das wirklich zusammen?”. Ich bestätigte.

Playground hat Frau H. von der Bedienung her am besten gefallen. Die App besitzt ein vielseitiges Klangergebnis. Vor allem ist sie einfach zu bedienen und dennoch “haptisch”. Da man sich die Wischbewegungen einprägen kann. Die Art der Quantisierung unterstützt das Musikmachen. Leider war die Stunde, die ich für das Experiment eingeplant hatte schnell überzogen. Am Ende sagte Frau H. es könne durchaus sein, dass sie in Zukunft mit einer Musikapp (wahrscheinlich mit Playground, wegen der guten Bedienbarkeit) auf ihrem iPad spielen werde.

Das Fazit aus diesem Versuch

Für mich war dieser Versuch auf jedenfall sehr aufschlussreich. Wir konnten hier auf ein Problem aufmerksam machen, dem ich selbst nie begegnet wäre: Die Voice-Over-Funktion und die Klangerzeugung der App vertragen sich nicht.

Es scheint Konflikte zwischen der Voice-Over-Funktion und Musikapps zu geben. Im besten Fall befassen sich die Entwickler/innen mal damit. Oder haben wir vielleicht eine einfache Lösung übersehen? Ihr könnt Euere Ideeen dazu gerne in den Kommentaren hinterlassen.

Ein guter Tipp von Frau H. war, dass man bei der Konfiguration die Voice-Over-Funktion mit einem Dreifach-Klick auf den Homebutton aktivieren bzw. deaktivieren kann. Dies lässt sich auch in den Bedienungshilfen einstellen.

IOS Bedienungshilfen VoiceOver

IOS Einstellungen Bedienhilfen

Achtung: Ich empfehle dies wirklich vor dem Einschalten der Voice Over Funktion zu machen. Beziehungsweise die Anleitung unter der Taste)gut zu lesen. Denn mein iPad wurde für mich bei einem Test zuhause fast unbedienbar, da mir diese Art der Bedienung sehr fremd war.

 

Tom Simonetti ist Schlagzeuger und leidenschaftlicher analog digitaler elektronik Musiker. Um seine langjährige Bühnen Erfahrung als Musiker zu teilen, ist er auch als Dozent tätig.
Zu seinen Auftraggebern gehören Schulen, Offene Hilfen, Theater, oder die Hochschule.


Eine Antwort zu “Wenn Blinde mit Musikapps musizieren wollen… – ein Erfahrungsbericht”

  1. Bryan sagt:

    Ein Bekannter hat mir letztens von Drake Music Scotland berichtet. Ein Musik-Projekt für Menschen mit Behinderungen. Ich dachte da auch gleich an app2music, da diese Schottische Gruppe in einem ähnlich gelagerten Bereich agiert.

    Hier ist der Link: https://drakemusicscotland.org/how-to-play-lovely-day-on-ipads/

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