Das Unsichtbare sichtbar machen – musikalisch-kulturelle Bildung „im Aquarium“

Valerie Krupp-Schleußner | 31. Mai 2016

Der Einsatz von Tablets und Apps bietet in pädagogischen Kontexten vielfältige Möglichkeiten zur Förderung musikalisch-kultureller Bildung. Dabei verbergen sich hinter dem Begriff musikalisch-kulturelle Bildung vielfältige Ziele, die unterschiedlichen Dimensionen zuzuordnen sind. Welche dieser Ziele lassen sich in technologievermittelten Angeboten durch Pädagog_innen kurz- oder auch langfristig verfolgen und erreichen? 

In der dritten Phase des Zertifikatskurses tAPP (2. Durchgang, Mai 2016) in Wolfenbüttel ging es unter anderem um die klare Definition von Zielen kultureller Bildung, die mithilfe von Appmusik-Angeboten erreicht werden können.

Dazu besuchten die Teilnehmer_innen zunächst meinen Kurs zum Thema „Wozu kulturelle Bildung? Fragen an Kultur, Bildung und Vermittlung aus musikpädagogischer Perspektive.“ In diesem Kurs haben wir gemeinsam versucht zu ergründen, was sich hinter dem Begriff „musikalisch-kulturelle Bildung“ eigentlich verbirgt und was ihn von Begriffen wie „Lernziel“ oder „Kompetenz“ unterscheidet. Im weiteren Verlauf der Phase planten die Teilnehmer_innen in drei Gruppen je eine 90-minütige Appmusik-Einheit, die sie mit einer 5. bzw. 10. Klasse eines Wolfenbütteler Gymnasiums durchführten. 

Kurzfristige Lernziele und langfristige Bildungsziele

Die Herausforderung in der Auseinandersetzung mit den Zielen kultureller Bildungsangebote liegt darin, kurzfristig erreichbare Lernziele von langfristig verfolgbaren Bildungszielen abzugrenzen. Erstere werden oft unmittelbar beobachtbar oder messbar, sie sind konkret und beschreibbar; letztere sind eher abstrakt und individuell: Sie beruhen auf bildungsrelevanten Erfahrungen, die zwar im handelnden Umgang mit Musik gemacht werden können, aber nicht unbedingt sichtbar sind. Erfahrungen sind dann bildungsrelevant, wenn eine Person dadurch ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zu der eigenen Umwelt neu oder verändert definiert. Diesem Denken liegen eine konstruktivistische Auffassung von Lernen sowie ein transformatorisches Bildungsverständnis zugrunde.

Appmusik_Diskurse

Kurzfristige Lernziele beziehen sich z.B. auf den Erwerb bestimmter Fähigkeiten oder Fertigkeiten, also beispielsweise auf Kompetenzen im gemeinsamen Musizieren, auf die Notation von musikalischer Ideen, auf die Funktionen einer bestimmten App zur Musikproduktion oder auf das Wissen darüber, welche App welche Funktionen zum Üben von Aufgaben der Gehörbildung bereithält. Mit dem Erwerb von Fähigkeiten oder Fertigkeiten geht jedoch nicht zwangsläufig auch eine musikalische Bildungserfahrung einher.

Musikalisches Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten (Kompetenzen)

  • Beherrschung eines Instrumentes
  • Funktionen einer App (technisches Know-How)
  • Aufnehmen von musikalischen Ideen/Ergebnissen
  • Bedienung eines Tablets
  • Musikalische Formen kennen und selbst komponieren können
  • Notenlesen können
  • Musik analysieren

Ziele musikalischer Bildungsangebote

  • Ermöglichung einer verständigen Musikpraxis
  • Vielfältige musikalische Betätigungsformen präsentieren, sodass Personen auswählen können, welche davon sie sich wirklich aneignen
  • Befähigung zur selbstbestimmten Teilhabe und zur Mitgestaltung (Agency)
  • Neugier auf Vielfalt kultureller Phänomene fördern
  • Kreativität fördern
  • Ästhetisches Ausdrucksvermögen fördern
  • Ästhetisches Urteilsvermögen fördern
  • Auseinandersetzung mit Kunst und Gesellschaft fördern
  • Lebenslanges musikalisches Involviertsein anbahnen
  • Persönlichkeitsentwicklung
  • Mehr Teilhabegerechtigkeit schaffen
  • Offenheit und Toleranz fördern

Diese vielfältigen Ziele werden idealerweise im handelnden Umgang mit Musik erreicht, da so bildungsrelevante Erfahrungen ermöglicht werden.

Erfahrung können wir auffassen als von einer Person zum individuellen (personalen) Handlungs- und Deutungshintergrund verarbeitete Wahrnehmungen von Reizen, Situationen und Geschehnissen, an denen sie beteiligt war.“ (vgl. Nykrin 1978)

Erfahrungen sind also nicht direkt sichtbar, sondern müssen erst reflektiert und gedeutet werden. 

Musikalische Bildung im Aquarium – in 90 Minuten?

Die Aufgabe der Teilnehmer_innen des Zertifikatskurses tAPP bestand darin, ein 90-minütiges Angebot für Schüler_innen eines Wolfenbütteler Gymnasiums zu konzipieren und durchzuführen. Das Thema für die Schüler_innen der 5. Klasse war der „Karneval der Tiere“ von Camille Saint-Saens. In diesem Rahmen nahm sich ein Teil der Kurs-Teilnehmer_innen der Neuvertonung des „Aquariums“ an. Diese Gruppe durfte ich bei der Durchführung ihres Angebotes in der Schule begleiten. Dadurch hatte ich Gelegenheit, die Schüler_Innen der 5. Klasse während der gesamten 90 Minuten der Durchführung intensiv zu beobachten. Im Folgenden möchte ich einige Eindrücke und Beobachtungen schildern.

Appmusik_Unterricht

Unterrichtsszene / Foto: Finn Dorian

Die Schüler_innen wurden in drei Gruppen eingeteilt, die jeweils einen bestimmten Aspekt des Aquariums vertonen sollten. Die Fotos zeigen die verschiedenen Setups, die auf verschiedenen Gruppentischen durch die Kurs-Teilnehmer_innen für die Schüler_innen vorbereitet wurden.

Ziele der Stunde (90 Minuten): Die Unterwasserwelt, den Blasen Blubber Blues und Flotte Flossen und flinke Schollen in Gruppen mit Apps vertonen. Hierfür kamen drei verschiedene Apps zum Einsatz. Am Ende stand die Zusammenführung der drei Einzelvertonungen (Zusammenspiel) im Rahmen einer Gruppenimprovisation.

Konkrete Lernziele bestanden also im Verstehen der Funktionalität der jeweiligen App und deren Anwendung. Im Rahmen einer Klangwerkstatt konnten die Kinder dann kreativ werden und ihre eigenen Vertonungen vorbereiten und umsetzen. Welche weitergehenden Bildungsziele aber können auch in dieser kurzen Zeit verfolgt werden? Und werden Momente musikalischer Bildungserfahrung sichtbar? 

Lernen und Bildungserfahrungen sichtbar gemacht…

Die Einführung in die Arbeit mit den einzelnen Apps, also die Vermittlung des technischen Know-Hows, ging in der Durchführung der Stunde recht schnell vonstatten. So konnten alle Schüler_innen nach wenigen Minuten die Klangwerkstatt eröffnen und mit Klängen experimentieren, diese aufnehmen, speichern, bearbeiten und zu einer Gesamtvertonung zusammenführen. Lernen hat also stattgefunden und durch die Arbeit mit den Apps kann die effektiv genutzte Lernzeit (time-on-task) als relativ hoch eingeschätzt werden. Aber die genaue Beobachtung des Stundenverlaufs zeigte auch, dass an vielen Stellen Raum für bildungsrelevante Erfahrungen geschaffen worden war. 

…Bildern

1.) Kreativität beim Produzieren von Klängen

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Foto: Finn Dorian

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Foto: Finn Dorian

2.) Positive Gruppenerfahrung und Selbstwirksamkeit

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Foto: Finn Dorian

 

3.) Kreativität und Konzentration beim Gestalten von Abläufen

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Foto: Finn Dorian

…in der Reflexion

In der Abschlussreflexion, die zumindest im schulischen Musikunterricht nie fehlen sollte, kamen weitere Aspekte zum Vorschein:

  1. »Ich fand‘s heute eigentlich gut und ich wusste vorher noch nicht, dass man mit Tablets und Handys und so Musik machen kann.«
  2. »Mich hat überrascht, dass jede Gruppe mit der App die Szene machen konnte, die man machen sollte

Die Zitate 1 und 2 beziehen sich auf konkrete Erkenntnisse, aber besonders das zweite Zitat zeigt, dass im Laufe der Stunde offenbar zunächst vorhandene Zweifel an den Erfolgsaussichten des Vorgehens ausgeräumt wurden. Beide Kinder haben etwas Neues für sich entdeckt.

  1. »Mir hat am besten gefallen, dass wir die Töne heute selbst produziert haben
  2. »Als ich das Aquarium gehört habe, hat es mir gefallen, dass wir das so gut hingekriegt haben

Im Zentrum der Aussagen 3 und 4 steht zunächst der Bezug zu dem in der Gruppe gemeinsam erreichten im Vordergrund. Dies kann als eine Erfahrung von positiver Selbstwirksamkeit in der Gruppe eingeordnet werden. Zudem wird im vierten Zitat aber auch die Qualität des Ergebnisses als „so gut“ gelobt. Gleiches gilt für das folgende, fünfte Zitat. Mit mehr Zeit könnte man an solchen Stellen tiefer in die Reflexion gehen und den Fokus auf künstlerische bzw. ästhetische Aspekte lenken.

  1. »Mich hat überrascht, dass es sich so gut angehört hat

Die Zitate 6 und 7 fokussieren erneut auf die Gruppe:

  1. »Gruppenarbeit fand ich richtig gut – hat Spaß gemacht
  2. »Mir hat gefallen, dass alle mitgemacht haben. (Gruppenerfahrung; keine Exklusion; evtl. Erfahrung von Gleichberechtigung)«

Zum einen wird in Zitat 6 die Freude an der Gruppenarbeit hervorgehoben. Zitat 7 bringt einen weiteren Aspekt ins Spiel, nämlich, dass alle mitgemacht haben. Hier wird der Aspekt von Gleichberechtigung oder auch von spontan möglicher Teilhabegerechtigkeit aufgerufen, da die Arbeit mit den Tablets offenbar für alle Kinder sehr schnell möglich war und da die Hürde zum Musizieren offenbar für niemanden zu hoch war.

Das achte und letzte Zitat macht in meinen Augen besonders deutlich, was die Arbeit mit Apps im Musikunterricht auszeichnet:

  1. »Mir hat‘s am besten gefallen, dass wir mit dem Tablet arbeiten konnten und dass wir keinen Unterricht hatten

Zum einen mag diese Wahrnehmung darin begründet sein, dass hier nicht die reguläre Lehrperson sondern außerschulische Expert_innen anwesend waren.

Appmusik_Erleben

Es spielt aber sicherlich auch eine Rolle, dass der Umgang mit Tablets und Smartphones eine enorm prominente Rolle in der Lebenswelt der Jugendlichen spielt und dass besonders das Musikhören mittlerweile fast ausschließlich über diese Devices stattfindet. Zudem werden sie für die soziale Interaktion genutzt. Die nur 90-minütige Phase konnte daran unmittelbar anknüpfen und hat den Kindern eine neue Dimension im Umgang mit Tablets und Smartphones eröffnet, eine Dimension, die deutlich aktiver und kreativer ist als das, was sie bisher kannten. 

Fazit

Die Arbeit mit Apps im Musikunterricht bietet viele Vorteile und mir hat sich gezeigt, dass verschiedene Ziele musikalischer Bildung damit unmittelbar verfolgt werden können. Dabei bestehen Potenziale sowohl für den schulischen Musikunterricht (oder die vorschulische Musikerziehung) genauso wie für die Gestaltung musikalischer Bildungsangebote im Ganztagsbereich.

Appmusik_Fazit

Die Hürde zum Musizieren ist äußerst gering, alle können mitmachen (Gleichberechtigung und Teilhabegerechtigkeit), es besteht eine große Nähe zur Lebenswelt der Lernenden und Aspekte wie Kreativität, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung sowie ästhetisches Ausdrucks- und Urteilsvermögen können gefördert werden. Dies gilt sicherlich auch für weitergehenden Bildungsziele, aber die gerade genannten Aspekte konnten in 90 Minuten „im Aquarium“ unmittelbar sichtbar werden. Vielen Dank für diese tolle Erfahrung!

 

Literatur

www.kubi-online.de

Bartelheimer, P. (2007). Politik der Teilhabe. Ein soziologischer Beipackzettel. Friedrich Ebert Stiftung.

Bleicher, J. (2006). Bildung. Theory Culture Society, 23(2-3), 364–365.

Jünger, H. (2014). Auf dem Wege zu musikalischer Tätigkeit. Anmerkungen zum Musikbegriff der Musikdidaktik. In J. Vogt, F. Heß, & M. Brenk (Hrsg.), (Grund-)Begriffe musikpädagogischen Nachdenkens. Entstehung, Bedeutung, Gebrauch. Sitzungsbericht 2013 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik (S. 65–80). Berlin: LIT.

Jünger, H. (2015). O. K. statt k. o. Tätigkeitsorientiert unterrichten – wie geht das? In B. Hofmann (Hrsg.), Musik und Musiker in Bayern Beiträge zu den Tagen der Bayerischen Schulmusik 2014 (S. 97–107). Innsbruck: Helbling.

Kaiser, H. J. (1998). Die Bedeutung von Musik und Musikalischer Bildung. In Ästhetische Theorie und musikpädagogische Theoriebildung. [Sitzungsbericht 1994/1995 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik] (S. 98–114). Mainz: Schott.

Koller, H.-C. (2012). Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer.

Nykrin, Rudolf (1978): Erfahrungserschließende Musikerziehung. Konzepte – Argumente – Bilder. Regensburg: Bosse.

Sen, A. (2012). Die Idee der Gerechtigkeit (2. Aufl.). München: dtv.

Vogt, J. (2004). (K)eine Kritik des Klassenmusikanten. Zum Stellenwert instrumentalen Musikmachens in der allgemeinbildenden Schule. Zeitschrift für kritische Musikpädagogik, 1–17.

Vogt, J. (2012). Musikalische Bildung – ein lexikalischer Versuch. Zeitschrift für kritische Musikpädagogik, 1–25.

Vogt, J. (2014). Schwierige Gleichheit. Vom Nutzen gerechtigkeitsphilosophischer Überlegungen für die Musikpädagogik. In Kulturelle Identität und Soziale Distinktion (S. 45–58). Innsbruck: Helbling.

 

Von 2013-2016 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Wirkungen und langfristige Effekte musikalischer Angebote (WilmA). Seit 2015 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Institut für musikpädagogische Forschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Neben der Teilhabe an Musikkultur beschäftigt sie sich mit dem informellen Musiklernen. Als Sängerin war und ist sie in verschiedenen Kammerchören und Ensembles tätig.


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